Das Buch hat schon im Vorfeld hohe Wellen geschlagen und soll natürlich hier auch nicht unbeachtet bleiben. Neal Stephenson hat einen Roman über Cryptologie geschrieben. Das ist sicherlich eine nette Idee, erklärt aber nicht ganz den Rummel, der um das Buch gemacht wird. Stephenson galt allerdings schon vor diesem Buch als ausgesprochen relevant für die Szene der Zukunftsdenker. Mit seinem Buch Snowcrash hat er ganz maßgeblich Zukunftsvorstellungen geprägt und beeinflußt, was heute unter Cyberspace verstanden wird. Allerdings kann sein Nachfolgeroman The Diamond Age nicht als annähernd so Visionär bezeichnet werden wie Snowcrash.
Doch daß ein Buch von einem bekannten und beliebten Autor die Nerdheit noch vor Erscheinung schon derartig in Aufregung versetzt, ist trotzdem ungewöhnlich. Das Buch erreichte allein über Vorbestellungen bei Amazon Platz 8 in den Verkaufscharts. Das ist besonders beeindruckend, wenn man bedenkt, daß niemand das Buch bis dahin gelesen hatte.
Die Erklärung dafür dürfte sein, daß Stephenson sich Mühe
gegeben hat, richtig und vollständig über Cryptografie zu
berichten. Das ist ungewöhnlich und man darf ihm wohl
attestieren, daß ihm dieses Unterfangen auch ganz gut gelungen
ist. Dies mag auch damit zusamenhängen, daß Stephenson seine Zeit
mit den richtigen Leuten verbringt, um viel über Cryptografie zu lernen
Er wird gelegentlich auf der
Cypherpunks-Mailingliste gesichtet, für deren Teilnehmer er sogar
eine eigene FAQ zum
Buch erstellt hat, und die Danksagung zu seinem Buch beginnt mit
folgenden Worten:
Bruce Schneier invented Solitaire, graciously consented to my use of it in this novel, and wrote the appendix. Ian Goldberg wrote the Perl script that appears in Enoch Root's e-mail to Randy.
Das ist schon beeindruckend, denn vermutlich würden 80% aller Hacker auf die Frage nach den zwei coolsten Cryptologen Schneier und Goldberg nennen. Und diese beiden haben einen Verschlüsselungsalgorythmus und ein diesen Algorythmus implementierendes Perl-Skript zu dem Roman beigesteuert.
Und dieser Verschlüsselungsalgorythmus gibt dem Buch eine Tragweite, die über die Funktion eines Romans hinausgeht: Bruce Schneier beschreibt den Solitaire Algorythmus in einem Anhang zum Buch ausführlich. Dieser Algorythmus kann ohne Computer, allein mit Hilfe eines Kartenspiels durchgeführt werden. Gleichzeitig wurde Solitaire designed, um auch "den finanzstärksten Militärberatern mit dem größten Computern und den schlauesten Cryptoanalysten zu widerstehen".
Das bedeutet, daß diese Solitaire Verschlüsselung von jedem Menschen in der Welt, der sich ein Kartenspiel leisten kann, genutzt werden kann; jeder Opositionelle in China, jeder Rebelle in Mexiko, jeder Gefängnisinsasse auf der Welt hat so den Zugang zu sicherer Verschlüsselung, egal, ob er sich einen Computer leisten kann, oder nicht. Ich denke, dies ist ein riesiger Erfolg für die Ziele der Cypherpunks.
Und gleichzeitig ist dieses Verschlüsselungssystem in einem
Roman enthalten, inklusive eines Perl-Skripts, mit dem man die
Karten auch auf einem Computer emulieren kann.
Als
Buchinhalt unterliegt dieser Verschlüsselungsalgorythmus keinen
US-Amerikanischen Exportbeschränkungen. Bücher werden zwar auch
in vielen Ländern kontrolliert und zensiert, aber sicherlich ist
es in der Regel einfacher, einen Roman zu beschaffen, als
Verschüsselungssoftware über Diskette zu beziehen oder einen
Internetzugang zu erhalten.
Solitaire mit Stephensons Buch
als Verbreitungsmedium hat sicherlich die Potenz, sichere
Verschlüsselung bis in den letzten Winkel der Welt zu bringen.
Allerdings hat es leider der Verlag geschafft, in das im Buch
veröffentlichte Perl-Skript einen Tippfehler
einzubauen.
Doch nun zum Buch selber: Die Bewertung der literarisch-künstlerischen Fähigkeiten des Autors sei Leuten überlassen, die meinen, sich mit sowas auszukennen. Was aber auch dem Laien in Literaturfragen auffällt ist der Hang des Autors zum abrupten Ende und zu einer gewissen Weitschweifigkeit. So erklärt er auf drei Seiten, unter welchen Umständen die Kette eines alten Fahrrades abspringt.
Stephenson erklärt in seinem Buch beiläufig alles, was der interessierte Laie über Cryptologie wissen sollte und erlaubt sich dabei keinen ernsthaften Schnitzer. Ein umfangreiches Unterfangen, das sich Stephenson vorgenommen hat, und es hat auch dazu geführt, daß er seine Geschichte in drei Bücher aufspalten mußte, von denen das Cryptonomicon der erste Band ist. Und allein dieser erste Band bringt es auf über 900 Seiten.
Es werden mehrere ineinander verwobene Geschichten erzählt, die sich zum einen darum drehen, wie die Alliierten im zweiten Weltkrieg versuchen, die Tatsache, daß sie die Hauptcodes der Achsenmächte gebrochen haben, vor denselben zu verbergen. Zum anderen geht es um eine Gruppe Hacker bzw. junge Firmengründer, die in einem Sultanat versuchen, einen Dataheaven zu errichten.
En passant wird jede Menge über das Leben von Nerds, die Probleme von High-Tech Start-Up-Companys und Crypto erzählt. So sind One-Time Pads, kompromittierende Abstrahlung, Schlüssellängen, böswillige Minderheitsaktionäre und vieles andere Themen des Buches. Das ganze wird durch einen sehr humorvollen, Nerd-freundlichen Schreibstil unterstützt.
Mit Schulenglisch sollte der Wälzer problemlos zu meistern
sein. Gut 50 Mark sind ein fairer Preis für ein dickes Buch mit
für amerikanische Verhältnisse ungewöhnlich hoher Druck- und
Papierqalität. Wem das zu teuer ist, der mag die
Taschenbuchausgabe abwarten.
Alles in allem zwar kein Buch,
dessen Nichtkenntnis zu einer klaffenden Bildungslücke führt,
wie das bei Snowcrash der Fall ist, aber sicherlich etwas, was
Aufnahme in das allgemeine Hacker/Cypherpunk Kulturgut finden
wird.
Neal Stephenson: Cryptonomicon
DM 51,30, Hardcover
Avon Books; ISBN: 0380973464
918 Seiten, englisch